Religion und Gewalt

Warum die Religionen keine „treibende Kraft für eine Kultur des Friedens“ sind
(Michael Schmidt-Salomon in Osnabrück, 19.10.2010)
Mir ist die Aufgabe zugefallen, hier und heute sozusagen den „Gegenvortrag“ zum morgigen Referat von Hans Küng zu halten. Natürlich weiß ich nicht, was Herr Küng unter dem Titel „Eine gemeinsame Vision vom Frieden in der Welt? Religionen als treibende Kraft für eine Kultur des Friedens“ genau sagen wird, aber ich kann mir ungefähr ausmalen, worauf sein Referat hinauslaufen wird: Herr Küng wird einräumen, dass es da durchaus Probleme im interreligiösen Dialog gibt, aber er wird nicht müde werden, zu betonen, dass ein Weltfrieden ohne Religionsfrieden unmöglich ist. Glücklicherweise weiß Hans Küng jedoch, wo die Lösung für die weltweiten Konflikte zu finden ist, nämlich im sogenannten „Humanum“. Denn Küng zufolge tragen alle Weltreligionen als „Kern“ das „wahrhaft Menschliche“ in sich, was unser Weltethos-Spezialist zweifelsfrei mit einem Potpourri der schönsten Verse aus den heiligen Schriften der Weltreligionen belegen wird.
Sicherlich wird Hans Küng auch mit einigem Stolz darauf hinweisen, wie weit der „interreligiöse Dialog“ in den letzten Jahren vorangekommen ist und wie enorm wichtig es ist, dass dieser Dialog konsequent fortgesetzt wird (was dann auch erklärt, warum die öffentliche Hand nicht nur den morgen beginnenden Kongress großzügig sponsert, sondern schon seit Jahren beachtliche Mittel bereitstellt, damit sich religiöse Experten und Laien aller Konfessionen an runden Tischen bzw. auf internationalen Konferenzen treffen können). Küng ist selbstverständlich davon überzeugt, dass ein verantwortungsvoller Politiker bei einer solch großartigen Vision wie der „Vision vom Frieden in der Welt“ einfach nicht geizig sein kann und darf. Und ich fürchte, dass nur die wenigsten seiner Zuhörer dabei an das schöne Wort unseres Alt-Bundeskanzlers Helmut Schmidt denken werden, der einmal sagte, dass derjenige, der Visionen hat, doch bitte zum Arzt gehen sollte – und nicht in die Politik.

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich wäre hoch erfreut, wenn Hans Küng mit seinem interreligiösen „Projekt Weltethos“ Recht behalten würde. Wie viel besser sähe unser Welt aus, wenn die Religionen tatsächlich „eine treibende Kraft für eine Kultur des Friedens“ sein könnten! Doch allein: Mir fehlt der Glaube – oder genauer: ein belastbarer Beleg zur Annahme dieses Glaubens. Ich bin von den Veranstaltern gebeten worden, meinen Vortrag möglichst kurz zu halten, so dass möglichst viel Zeit für die Diskussion bleibt. Deshalb möchte ich nun ohne weitere Vorrede zu meiner ersten These kommen. Sie lautet: Der „wahre Kern“ der Religionen ist nicht das „Humanum“, sondern die konfliktträchtige Differenzierung zwischen Ingroup- und Outgroup-Mitgliedern Man muss, wie ich meine, die „Heiligen Schriften“ der Religionen schon höchst selektiv lesen, um in ihnen ausgerechnet die Idee des „Humanum“, des „universal Menschlichen“, zu entdecken. Denn diese Texte orientieren sich (was historisch nur zu verständlich ist) eben nicht am Leitgedanken der Menschenrechte, die universell, also für jede Person gelten. Sie differenzieren vielmehr zwischen frommen Mitgläubigen, denen man mit Milde, Freundlichkeit, Respekt und Fairness begegnen soll, und Andersdenkenden, Andersgläubigen, die derartige Rücksichtnahme nicht verdienen. Während die humanistische Ethik notwendigerweise auf alle Menschen die gleichen Prinzipien anwendet, um auf diese Weise Diskriminierungen aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Nationalität, Bildung, sozialer Herkunft, sexueller Präferenz, Religionszugehörigkeit etc. aufzuheben, sind die Religionen geradezu darauf ausgerichtet, weltanschauliche Diskriminierungen vorzunehmen. Deshalb ist es auch verkehrt, von einer christlichen oder muslimischen Ethik zu sprechen. Denn jede Religion kennt (unabhängig von allen innerreligiösen Streitigkeiten) mindestens zwei grundverschiedene Ethiken, nämlich eine religiöse Binnenmoral, die das Verhältnis zu den jeweiligen Glaubensbrüdern und -schwestern bestimmt, sowie eine religiöse Außenmoral, die den Umgang mit Nichtgruppenmitgliedern betrifft. Es ist wichtig, diese beiden ethischen Systeme nicht durcheinanderzuwerfen. Denn für Gruppenmitglieder, die Ingroup, gelten völlig andere Normen als für Außenstehende, die Outgroup. Da sich diese beiden Normsysteme radikal voneinander unterscheiden, hat es sich in der Wissenschaft eingebürgert, von einem regelrechten „Dualismus der Ethik“ zu sprechen. Schauen wir uns an, wie sich dieser Dualismus der Ethik in den heiligen Schriften ausdrückt. Aus Zeitgründen will ich mich hier auf das Alte und Neue Testament sowie den Koran beschränken: Beginnen wir chronologisch mit dem Alten Testament. Dort heißt es zwar: „Du sollst nicht morden“2 und „Du sollst nicht stehlen“3, doch wenige Zeilen später wird klar, dass solch noble Verhaltensweisen nur gegenüber den fest integrierten Mitgliedern der eigenen Gruppe gefordert sind. Wer nämlich gegen die Gemeinschaftsregeln verstößt, der wird zum Outsider und muss eliminiert werden: „Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen… Wer einer Gottheit außer Jahwe Schlachtopfer erbringt, an dem soll die Vernichtungsweihe vollzogen werden.“4 Bezogen auf den Umgang mit anderen Gruppen, verheißt Gott seinem auserwählten Volk: „Ich sende meinen Schrecken vor dir her, ich verwirre jedes Volk, zu dem du kommst, und alle deine Feinde lasse ich vor dir Flucht ergreifen. Ich lasse vor dir Panik ausbrechen; sie wird die Hiwiter, Kanaaniter und Hetiter vor dir hertreiben … Nur allmählich will ich sie vor dir zurückdrängen, bis du so zahlreich geworden bist, dass du das Land in Besitz nehmen kannst.“ Mit Mitgefühl dürfen „die Feinde“ nicht rechnen. Denn es steht geschrieben: „Du wirst alle Völker verzehren, die der Herr, dein Gott, für dich bestimmt. Du sollst in dir kein Mitleid mit ihnen aufsteigen lassen … Du wirst ihren Namen unter dem Himmel austilgen. Keiner wird deinem Angriff standhalten können, bis du sie schließlich vernichtet hast.“ Ingroup-Outgroup-Denken ist aber auch für das Neue Testament charakteristisch. Zwar findet man hier das bemerkenswerte Gebot der „Feindesliebe“7, dies verhindert jedoch nicht, dass die Bestrafung „der anderen“, „der Bösen“, immer wieder in schillerndsten Farben ausgemalt wird. So heißt es im Matthäusevangelium: „Der Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben, und werden sie in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen.“ Mit dem unablässig wiederholten Hinweis, dass diejenigen, die Jesus nicht folgen wollen (also Outsider jeder Art), dem ewigen Höllenfeuer anheimfallen werden, führt das Neue Testament eine Strafandrohung ein, die bei genauerer Betrachtung alles in den Schatten stellt, was im Alten Testament an Gräuel für „die anderen“ vorgesehen war. Der Entwicklungspsychologe Franz Buggle hat hierin zu Recht den eigentlichen Skandal der neutestamentarischen Ethik erkannt: „Man versuche, sich von aller Gewöhnung durch religiöse Erziehung einmal frei und sich klarzumachen, was eine Drohung mit ewig andauernden extremen Qualen psychologisch bedeutet; dagegen verblassen alle sonst bekannten Folterungen und Strafen, weil diese immerhin zeitlich endlich sind.“  Im Römerbrief des Apostel Paulus kommt die moralische Abgrenzung der „guten Gottgläubigen“ von den „bösen anderen“ besonders deutlich zum Vorschein. Die, die sich weigern, (den christlichen) Gott anzuerkennen, sind, so der Apostel, „voll Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, voll Neid, Mord, Streit, List und Tücke, sie verleumden und treiben üble Nachrede, sie hassen Gott, sind überheblich, hochmütig und prahlerisch, erfinderisch im Bösen und ungehorsam gegen die Eltern, sie sind unverständig und haltlos, ohne Liebe und Erbarmen … Wer so handelt, verdient den Tod.“ Dass im Neuen Testament sympathischerweise nicht dazu aufgerufen wird, dieses Todesurteil selbst zu vollstrecken, liegt daran, dass die frühen Christen einem kolossalen Irrtum unterlagen: Sie gingen nämlich vom baldigen „Ende der Welt“ aus und meinten daher, die Verurteilung „der Bösen“ dem nahenden „Strafgericht Gottes“ überlassen zu können. Was sie sich darunter vorstellten, verrät die „Offenbarung des Johannes“, mit der die Bibel endet – eine atemberaubende Orgie der Gewalt: Ich kenne kaum ein Werk aus der gesamten Weltliteratur, das von solch grenzenlosem Hass gegenüber „den anderen“ gekennzeichnet ist.
Angesichts der kolossalen Schwarz-Weiß-Zeichnung der Offenbarung ist es nicht unverständlich, dass die zuvor recht zahme Christengemeinde, nachdem sie feststellte, dass das Jüngste Gericht doch auf sich warten ließ, die Sache mehr und mehr selbst in die Hand nahm, also anstelle Gottes bereits auf Erden „die Bösen“ richtete. Die dramatischen Folgen dieser (durch die „Konstantinische Wende“ forcierte) „Neubesinnung“ hat der Religions- und Kirchenkritiker Karlheinz Deschner in seiner Kriminalgeschichte des Christentums eindrucksvoll beschrieben. Eine scharfe Differenzierung entsprechend des Ingroup-Outgroup-Schemas kennzeichnet natürlich auch den Koran. Barmherzig, gütig und milde zeigt sich Allah nur jenen gegenüber, die sich gehorsam seinen Geboten fügen. Alle anderen erwartet am „jüngsten Tag“ nicht bloß das „ewige Feuer“, sie werden in der Hölle mit „Eiterfluss“ und „Jauche“ getränkt11, sie erhalten einen „Trunk aus siedendem Wasser“, der ihnen die „Eingeweide zerreißt“13, werden mit „eisernen Keulen“ geschlagen14, müssen Kleidungsstücke aus flüssigem Kupfer und Teer tragen15 und vieles andere mehr. Doch beschränkt sich Allah im Koran nicht bloß auf sadistische Jenseits-Verheißungen, er erteilt auch praktische Anweisungen fürs Diesseits, etwa: „Wenn ihr (auf einem Feldzug) mit den Ungläubigen zusammentrefft, dann haut (ihnen mit dem Schwert) auf den Nacken! Wenn ihr sie schließlich vollständig niedergekämpft habt, dann legt (sie) in Fesseln, (um sie) später entweder auf dem Gnadenweg oder gegen Lösegeld (freizugeben).“
Immer wieder wird im Koran betont, wie sehr Allah die Ungläubigen hasst, dass es für jeden gläubigen Muslim eine heilige Pflicht sei, die Rache Gottes an den Ungläubigen zu vollziehen. Wer sich von dieser Pflicht zum Heiligen Krieg drücke (ausgenommen sind allein kranke, blinde, lahme oder schwache Männer sowie Frauen und Kinder18), der werde unweigerlich zur Hölle fahren und mit den schlimmsten Strafen Allahs belegt werden. Wer den Koran kennt, der weiß, dass Osama bin Ladens Terrordoktrin sich durchaus elegant über den moralischen Dualismus im Koran legitimieren lässt. Der al-Qaida-Chef selbst verweist in seinen Stellungnahmen besonders gern20 auf den berühmten „Schwertvers“: „Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo (immer) ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf! Wenn sie sich aber bekehren, das Gebet verrichten und die Almosensteuer geben, dann lasst sie ihres Weges ziehen! Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben.“ Dass in der Geschichte Nächstenliebe und Fernstenhass meist miteinander Hand in Hand gingen, muss uns angesichts des ethischen Dualismus in den heiligen Texten kaum verwundern. Schließlich lieferten sie ja beste Rechtfertigungsargumente für die Devise: „Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein!“ Friedensfördernd ist dies sicherlich nicht. Wie also kommt Hans Küng auf die Idee, dass ausgerechnet die Religionen eine „treibende Kraft für eine Kultur des Friedens“ sein könnten? Nun, Küngs Hoffnung gründet auf dem Konzept der aufgeklärten Religiosität. Er wendet sich damit entschieden gegen vormoderne, fundamentalistische Formen von Religion. Das ist zweifellos zu begrüßen. Doch ist es wirklich gerechtfertigt, große Hoffnungen auf das Projekt der aufgeklärten Religiosität zu setzen? Ich meine: nein. Und damit komme ich zu meiner zweiten These: Aufgeklärte Religiosität ist kein „Modell der Zukunft“, sondern ein vom Aussterben bedrohtes Phänomen der europäischen Kulturgeschichte. Künftige weltanschauliche Konflikte werden zunehmend vom Widerstreit von fundamentalistischer Religion und konsequentem Säkularismus bestimmt sein. Aus der europäischen Vermählung von Aufklärung und Christentum ging eine merkwürdige Promenadenmischung hervor, die sog. „aufgeklärte Religion“. Liberal-muslimische Autoren wie Bassam Tibi hoffen, dass eine derartige Zivilisierung der Religion auch im Falle des Islam möglich wäre, was natürlich zu einer Abmilderung des „Kampfes der Kulturen“ führen könnte. Die Frage ist allerdings, ob diese Hoffnung auf einen aufklärerisch infizierten „Euro-Islam“ berechtigt ist oder nicht.  

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